Christoph Pampuch [2005]
Neue Wege für die Finger
Manches habe ich schon zu hören bekommen: „Für dieses Instrument musst Du den Menschen neu erfinden!” wurde ich von einem Harfner „ermutigt”, der selber neue Wege mit der alten Harfe geht. Ein in der keltischen Bardentradition wurzelnder Musiker blickte sinnend auf meine Chromatische Harfe, die auf dem Podium spannungsvoll auf ihr Konzert wartete, und murmelte (tröstlicherweise mit einem Lächeln): „Welch diabolisches Instrument ...” — Meine Harfe hat doch keine Hörnchen!
Aber zum Glück werde ich auch unterstützt: „Die Harfe des neuen Jahrtausends” nennt sie ein Musiker, der die Bandbreite zwischen irischer Harfnertradition und Jazz in seinem Spiel vereint, und eine Vertreterin der zweireihigen Chromatischen Harfe sagte zuerst: „Das geht nicht!” und revidiert ihr Urteil ein Jahr später: „Es geht ja doch ?!”
Die Geschichte der Chromatischen Harfe ...
... beginnt in der Renaissance. Die Komponisten schwelgen in immer neuen Farbnuancen („Chroma”) in Form von tonartfremden Tönen und bringen die Harfner zur Verzweiflung. Der ehrwürdigen einreihigen Harfe (die nur in einer Tonart spielen konnte) gingen die Töne aus. Da betritt die Großmutter meiner Harfe die Bühne, und wie ein X durchkreuzt eine zweite Saitenreihe die bisherigen zu wenig gewordenen Saiten. Nun sind alle Töne da, wie beim Klavier. Die Ehre der Harfe ist gerettet.
Dieses Konzept überträgt 1840 Pleyel auf die Größe der damaligen Konzertharfe. Doch schon 1720 hatte Hochbrucker den Pedalmechanismus erfunden und nun entbrennt ein erbitterter „Harfenkrieg” zwischen der mechanisch anspruchsvollen Doppelpedalharfe (bei der die Halbtöne durch das Verkürzen von Saiten über Pedale erzeugt werden) und dem einfachen Durchkreuzen von diatonischen und ergänzenden chromatischen Saiten. In einer Zeit des „technischen Positivismus” muss jedoch ein kompliziertes Instrument den Sieg davontragen und die Doppelpedalharfe wird zur alleinigen Konzertharfe.
In Italien finden Instrumentenbauer und Musiker eine andere Möglichkeit, der Harfe auf die chromatischen Sprünge zu helfen. Bei der „arpa doppia” liegen die chromatischen Saiten parallel hinter den diatonischen – die Finger müssen zwischen den Saiten hindurchgreifen. Dieses Instrument entwickelt sich weiter und ist heute noch in der fast hundertsaitigen Tripleharp aus Wales lebendig.
Bei all diesen Chromatischen Harfen waren die Saiten wie die Tasten des Klavieres angeordnet: Die sieben weißen Töne der C–Dur–Tonleiter werden mit den fehlenden fünf schwarzen Tönen zum vollständigen chromatischen Tonumfang ergänzt.
Aspekte der Ganztönigen Chromatischen Harfe
Das Ungewöhnliche (und für Viele auch ziemlich Erschreckende) dagegen an meiner Harfe ist ihr Prinzip der Ganztönigkeit: Ihre zwei Saitenebenen sind in zueinander symmetrischen sechstönigen Ganztonskalen gestimmt, die sich durchkreuzend zur Chromatischen Skala ergänzen:
C D E Fis Gis Ais + Cis Dis F G A H. Das einzige mir bekannte Musikinstrument in dieser symmetrischen Saitenanordnung ist das Salzburger Hackbrett.
1845 baut der französische Harfenbauer Henri Pape zum ersten Mal eine Chromatische Harfe in dieser ganztönigen Saitenanordnung. Sie ist die direkte Vorfahrin meiner Harfe. Niemand kaufte sie — vielleicht war es einfach noch zu früh für seine Idee.
Das musikalische Ergebnis ist verblüffend: Egal in welcher Tonart – alle gleich klingenden Intervalle, Akkorde und Skalen werden nun auch gleich gegriffen. Klang und Griff sind bei Transponierungen in Ganztonschritten vollkommen identisch, im Halbtonabstand werden sie gespiegelt. Es ist das alte Prinzip der diatonischen Harfe, das nun tatsächlich in die Welt der Chromatik übertragen ist. Denn die vertraute Anordnung der Klaviertasten ist ja in Wahrheit nur ein chromatisiertes C–Dur, die in allen anderen Tonarten ihre Logik einbüßt.
Auf der Suche nach neuen musikalischen Wegen scheint mir die sich zur Chromatik ergänzende Ganztönigkeit ein bedeutender Schlüssel zu sein, weil hier zum ersten Mal alle Töne auch der inneren Logik nach wirklich gleichberechtigt sind. Seit der Einführung der gleichschwebenden temperierten Stimmung zu Bachs Zeiten klingt die Musik schon „symmetrisch”, während Tastaturen und Griffsysteme herkömmlicher Instrumente immer noch asymmetrisch sind. Die weißen und schwarzen Tasten des Klavieres oder die logischen Hauptgriffe einer Blockflöte im Gegensatz zu ihren komplizierten Griffen für die Halbtöne mögen als Beispiele genügen.
Harfenphilosophie
Die chinesische Musiktheorie definierte schon vor 1000 Jahren das zwölftönige System in einer weiblichen und männlichen Ganztonskala, die sich wie Yin und Yang zur Einheit ergänzen. Dies ist der Grundgedanke des chinesischen Tao. Die beiden Saitenebenen der Ganztönigen Chromatischen Harfe verhalten sich wie Yin und Yang: Sie sind einander entgegengesetzt und doch von gleicher innerer Struktur. Erst in ihrer Verbindung gewinne ich die vollständige chromatische Skala. Es macht mir Mut, in dieser alten Weisheit die Idee meiner Harfe wiederzufinden.
Drei Instrumente vereinen sich für mich in der Chromatischen Harfe. Die Feinheit der Klassischen Gitarre lebt in der Zartheit der Besaitung und in der Vielfältigkeit der Handhaltungen. Die Finger können feinste Klangnuancen erzeugen, indem sie die Saiten auf verschiedenste Weise berühren. Das Klavier ist durch seine universelle Fähigkeit vertreten, jeden Ton zu jeder Zeit mit jedem anderen Ton kombinieren zu können, ohne vorher irgendwelche Vorbedingungen (wie Klappen und Pedale) schaffen zu müssen – und die Harfe selbst trägt die Schönheit der in Freiheit ungedämpft schwingenden Saiten bei.
Das Spielgefühl
Schon nach überraschend kurzer Zeit war mir der Anblick der vielen sich durchkreuzenden Saiten vertraut, denn das Auge fixiert beim Spielen ja die Hand und nicht die Saiten. Im Gegenteil – während meine Hände sich früher auf der flachen Ebene des einfachen Saitenbezuges bewegten, ist das Spielfeld nun „dreidimensional” und damit „griffiger” geworden.
Der Winkel der Saitenebenen zueinander erlöst den kleinen Finger aus seiner Verbannung, weil die untere Ebene der Hand entgegenkommt. Das ist ein Riesenvorteil, denn europäische Musik ist oft von Fünftonfiguren geprägt. Der Winkel der sich kreuzenden Saitenebenen ist bei meiner Harfe größer als beim historischen spanischen Vorbild, so dass die Hand für Halbtöne nicht nach oben oder unten rücken muss, weil der Daumen nun auf der einen und die übrigen Finger auf der anderen Saitenebene spielen können.
Ich benutze die moderne Spieltechnik (Daumen oben) genauso oft wie die alte (Daumen unten) und wechsle häufig zwischen beiden. Die Dreidimensionalität der Saiten ermöglicht mit den Handstellungswechseln eine Fülle neuer und ungewöhnlicher Fingersatzmöglichkeiten. Aus neuen Fingersätzen entstehen neue musikalische Ideen, die schließlich neue Horizonte erschließen.
Ich bin nicht allein
Seit zwei Jahren unternehme ich mit meiner Chromatischen Harfe und meinem Publikum eine Zeitreise durch die Epochen: Transkriptionen von der altspanischen Vihuela, kontrapunktische Kompositionen des Spätbarock, romantische spanische Gitarrenmusik und die innigen Klangbilder Eric Saties formen ein Konzert jenseits des üblichen Harfenrepertoires.
Auf der ersten öffentlichen Präsentation begegnete mir mein erster Schüler, der als Physiker sofort von der Logik der Saitenanordnung begeistert war. Seither diskutieren wir oft über ideale Fingersätze und freuen uns, wenn wir unabhängig voneinander auf die gleichen Ideen kommen. Er baute sein Instrument in einem Baukurs der Klangwerkstatt unter Anleitung der Instrumentenbauer André Schubert und Christoph Löcherbach.
Die Klangwerkstatt in Markt Wald im Allgäu verwirklichte meine Idee als Böhmische Harfe, die von ihren zukünftigen Spielerinnen und Spielern sogar selbst gebaut werden kann. Das wird möglich durch ihr einfaches Prinzip, denn bei allen Neuerungen ist diese Harfe ein unkompliziertes Instrument. Die einzige Mechanik sind ihre Wirbel. Kein Klirren und Scheppern, kein Justieren von Klappen, Seilen, Stangen oder Pedalen. Einmal gestimmt – stimmt sie perfekt. Zum Glück gibt es heute chromatische Stimmgeräte!
Das Jahr 2003 wird für mich ganz der Chromatischen Harfe gewidmet sein. Mit meinem ersten Schüler sind zwei weitere Schülerinnen dem Abenteuer Chromatik auf der Spur. Für sie und weitere Mutige möchte ich ein Lehrbuch chromatischer Musik schreiben, das direkt von der neuen Saitenanordnung inspiriert ist. Denn neue Wege für die Finger geben neuen Klängen Raum.
Unabhängig von mir hat sich ein Freudeskreis der Chromatischen Harfe gebildet, der jährliche Treffen organisiert. Mehr Infos dazu finden sich unter: » www.chromatiker.de